Den Oktober verbrachten wir in Griechenland. Die Pracht von Blau und Weiß. Sandbeige und Blau. Schwarz und Blau. Die Rückkehr nach Novemberberlin gleicht einem Schock. Es regnet. Alle Menschen in der U-Bahn sitzen idiotisch herum, schweigen und glotzen vor sich hin. Ihre Mundwinkel sind alle nach unten gesenkt, in einer grimmigen Grimasse von Unzufriedenheit, Neid und Verbissenheit. Die Berliner Fratze.
Es regnet eine ganze Woche lang. Alles ist grau und kalt.
Samstag. Endlich blauer Himmel und Sonne. Kalt ist es immer noch, aber nicht mehr grau. Ich gehe spazieren, möchte goldene Bäume sehen. Interessiert mich alles nicht, ich sehne mich nur nach Gold. Auf dem Bayerischen Platz endlich ein paar Birken. Golden, wie ich es verdient habe. Es ist kalt. Ich gehe stur weiter. Alle Straßen sind menschenleer. Die Bundesallee. Samstag früh – der Berliner möchte einmal ausschlafen. Vor mir ein großer goldener Baum. Ich trete näher und glaube meinen Augen nicht – ein Ginkgo. Groß, prächtig, golden. Ich sammle ein paar Blätter. Als ich mich nach unten beuge, sehe ich plötzlich ein paar Meter weiter einen anderen Goldbaum, unter dem sich zugleich drei Menschen, etwas pflückend, beugen. Chinesen, stelle ich fest. Drei Chinesen unter einem Ginkgo-Baum an einem menschenleeren Samstag. Der Baum dort ist viel kleiner, mickriger, gar nicht so ein Prachtstück wie der „meine“. Die Baumkrone lichterer, mit weniger Ästen und Blättern. Die Chinesen arbeiten, das sieht man ihnen an. Es ist etwas zielbewußtes in ihren Bewegungen, rauf und runter. Jeder hält in der Hand eine durchsichtige, orangenfarbene Plastiktüte, von der Art, die man immer kostenlos in einem türkischen Laden bekommt. Sie stecken das, was sie vom Boden heben in diese Tüten. Ich bilde mir ein, daß die Chinesen die Blätter sammeln, um ein Zimmer in ihrer Wohnung mit den goldenen Ginkgo-Blättern zu tapezieren, damit ein schöner Meditationsraum entstehen kann.
Vor ein paar Jahren habe ich in Holland ein Gebetszimmer, in einem fernöstlichen Haus gesehen, dessen Wände mit Magnolienblüten bedeckt waren. Es klingt romantischer als es aussah. Magnolienblüten mögen fabelhaft am Baum aussehen, auf die Wand aufgeklebt sind sie ganz einfach schmutzigweiß. Ich hätte es eben lieber mit Ginkgo-Blättern gemacht. Es hätte sicherlich märchenhaft ausgesehen. Wie ein Ginkgo-Blätter-Kleid für Garadiela in Lothorien oder für Titania im Mitsommernachttraum.
Fest entschlossen, die drei Chinesen unter dem Baum müssen gerade so ein Ziel vor den Augen haben und erpicht, ihnen dabei sofort zu Hilfe zu kommen, gehe ich auf sie zu und behaupte, da, unter „meinem“ Baum seien die Blätter viel schöner und beständiger, und in größerer Menge.
Es sind zwei Männer und eine Frau. Sie schauen mich mitleidig an und lachen. „Wissen Sie“, sagt die Chinesin und sie sagt es gerade so, wie die Chinesen sprechen, mit dünnem S, die durch eine dünne, kindliche Stimme zu etwas fast komischem verändert wird. „Der Baum da, der ist ein Mann, der taugt nicht“.
„Und?“ – frage ich – „Was pflücken sie denn hier?“ „Dies ist eine Frau und hat Früchte“. Sie zeigen mir kleine, grüngelbe Beeren auf langen Stielen. Sie sehen wie ungereifte Kirschen aus, nur die Farbe ist anders. Hilflos suche ich mir ein paar Früchte zusammen und schnupfe an ihnen. Sie riechen eher unangenehm, nicht schlecht, aber gerade so – unangenehm, ein bißchen nach Hundeurin. Die Chinesen essen doch alles, erinnere ich mich plötzlich. Ich bin keine Chinesin, für mich sind diese Früchte weder eine Bereicherung meiner langweiligen europäischen Nahrung im Exil, noch ein Stück ferner Heimat an einem kalten Tag. Es sind ganz einfach kleine, ungereifte Beeren unter einem Weib-Baum gepflückt, die unangenehm riechen. Etwas ist in mir verlorengegangen, obwohl ich es nicht genauer weiß, was es ist.
Mir kommt es vor, als ob ich wüßte, der Ginkgobaum sei zweihäusig: Männliche und weibliche „Blüten“ entwickeln sich auf verschiedenen Bäumen. Die männlichen „Blüten“ produzieren Pollen, die weiblichen(!) - Samen, die von einem unangenehm, ranzig riechenden, fleischigen Integument umgeben sind. Die Blüten von Ginkgo sind giftig. Die Pollen, die vom Wind verteilt werden, kleben an den Samen, die Zeugung folgt jedoch erst gut zwei Monate später.
Die weiblichen Bäume riechen unangenehm. Doch die geschälten Samen des Weibbaums werden in China und Japan geröstet und sind als Delikatesse beliebt. Ich bringe es nicht über mich, die Früchte zu kosten. Ich gebe sie mit meiner kleinen Geschichte an meine Freundin weiter. Ein paar weibliche Beeren mit zwei männlichen Blättern. Ein schönes herbstliches Gedeck. Aber essen möchte ich davon nichts.
Der Ginkgo, der dank Goethes Gedicht zum Symbol der Einigkeit zweier sich liebenden Menschen avancierte, ist in Wirklichkeit für uns, die wir keine Sachkundigen sind, eine Seltenheit – ein Baum, der entweder weiblich oder männlich ist. Geteilt. Fern von einander. Auf ewig und immer. Bis auf Gott sie verbindet.
Und der Mann, der taugt nicht.