Dienstag, 30. September 2008

Ein Messer

Wenn ich darüber nachdenke, was mich fürs Leben geprägt hat, muss ich unbedingt die Idee eines Messer erwähnen. Sie steht für Einfachheit, die doch Zauber wirken kann. Und es ging um den Zauber. Kulinarisch etwas zu verzaubern, was ein Chinese mit einem großen Messer schafft. Radieschenrosen, Gurkenschiffe, fantasievolle Karottenblumen, schneeweiße Magnolien aus der Mairübe. Wo habe ich gelesen? Keine Ahnung. Ich weiß sogar nicht mehr, ob es in dem Artikel irgendwelche Abbildungen von diesem Zauber gab. In dem Text ging es sogar nicht um den Zauber selbst, sondern um die Einfachheit. Es musste unterschwellig eine politische Botschaft transportieren, dass man nämlich nicht diesen ganzen kapitalistischen Schnikschnak braucht, weil ein Chinese mit einem großen, einfachen Messer alle seine Gerichte zubereitet, und die lassen sich sowohl sehen als auch schmecken.

Ich wuchs in Polen auf, in den Zeiten, als das Kulinarische sehr uninteressant war. Ich werde sogar vermuten, dreifach uninteressant. Politisch, traditionell und familiär. Das Politische bestimmte die Farbe, den Geruch und den Geschmack des Alltags. Das Leben war wenig farbig, dazu noch geruchs- und geschmackslos und ziemlich monoton. Die Kleider waren so, die Lichter in der Stadt, die Zeitschriften und Zeitungen, die Verpackungen, die Schulbücher, die Hefte. Daher waren die chinesischen Radiergummis so besonders. Irgendwie schaffte es die polnische Planwirtschaft alles nur notdürftig herzustellen und in einer Farbe, die - außer selbstverständlich die Fahnen - nie klar oder intensiv war. Alles Farbige war mit einem gewissen Grauton vermischt, alles Weiße - gelblich grau, alles Schwarze - graumatt. Es gab weder Seide noch Taft, weder Satin noch Samt, keine Spitzen, aber auch keine reine Schurwolle, keinen dünnen und glatten Leinen. Sogar Jeans hießen "Szariki", nach dem Namen eines Hundes in der beliebten polnischen Fernsehserie Vier Panzersoldaten und ein Hund. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Besatzung eines Panzers "Rudy" (Rothaarig?) im 2. Weltkrieg - vier Männer und ihr Hund. Eben Szarik. Szarik stammte aus Russland und sein Name bedeutete auf Russisch - ein Kugeliger, aber als der Name ins Polnische und in polnische Fernsehserie transportiert wurde, nahm er die polnische Bedeutung - der Graue. Die Serie war so beliebt, dass man die ersten polnischen Jeans Szarik nannte. Szariki waren grau. Graue Jeans. Der junge W. von Plenzdorf hätte Herzinfarkt gekriegt, wenn ihn sowas als Jeans angeboten würde.
Was das Essen betraf, war die graue Monotonie eigentlich noch schlimmer. Einerseits machte die Politik sowieso eine graue Pampe daraus, andererseits war die polnische kulinarische Tradition sowieso sehr einfaltig - Kartoffel, Fleisch in brauner Soße und Sauerkraut oder saure Gurken. Grausam. Ich mag keine Kartoffel, mir hat das Fleisch nie geschmeckt, ich bin auch kein Freund von sauren Essen. Dazu kam es noch das Familiäre. Meine Mutter war eine Künstlerin und hielt vom alltäglichen Kochen nie viel. Sie kochte immer etwas, was wenn möglich noch grauer, pampiger und grausamer war als das, was die Politik und die Tradition ermöglichten und zuließen. Aber Mama war eben eine Künstlerin. Manchmal befiel sie also eine tiefe Abneigung auf all das Monotone, und dann versuchte sie etwas Interessantes zu kochen. Wenn möglich, war das Interessante noch schlimmer als das Normale. Hühnerfrikasse mit blassen, zerkochten Hühnerfleisch und HAUT! Neapolitanische Suppe - eine graue Brühe mit geriebenem Käse! Gebackene Nieren, jede einzeln in einem dicken Mantel von weißem Fett! Gebratene Sellerie! Fischsuppe. Püriertes, graues Etwas, aus dem kleine tote Fisch-Auglein dich anschauten!! Mir graute es schon alleine beim Gedanken, dass man wieder etwas essen müsste. Was leider niemanden interessierte. Es waren die Zeiten, dass das Kind ohne Murren dies zu essen hatte, was auf dem Tisch stand. Das Kind, das nicht essen wollte, saß am Tisch so lange, bis es endlich aufgegessen hatte. Ich weiß es immer noch, ich sitze am Tisch und im meinem Mund wächst auf eine schreckliche Kugel zermarmelten Fleisches, die sich einfach nicht runterschlucken lässt. So wird man später ein Vegetarier.

Ich darf nicht meckern. In dieser grauer Grausamkeit gab es keine Not, wir hatten genug zum Essen, es war lediglich die Notdürftigkeit, die ich auf längere Frist zu hassen lernte. Und aus der mir die Botschaft eines einzigen Messers rausgeholfen hat. Bis heute kann ich zwar immer noch keine Pfingstrose aus dem Lachsfleisch herzaubern, aber die Idee, dass man gar nicht viel braucht, um etwas zu bewirken, trug mein ganzes Leben lang ihre Früchte.
So entsteht ein Lebensmotto: Man braucht echt wenig, um etwas zu bewirken.

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