Mittwoch, 9. Juli 2008

Die Fünf Brüder Li

Eigentlich waren die Chinesen schon immer da. Seit meiner Kindheit wusste ich, dass es sie gibt.
Wir wohnten in dem berühmten Vorort von Gdansk, in Langfuhr, der in den Romanen von Günter Grass so wichtige Rolle spielte. Für uns natürlich auch. Es gab alles in unserem Vorort. Es gab Kirche, dieselbe, die auch von Grass als Kind besucht wurde. Ein kleiner Park, wo ein kleiner Bach unheimlich unter dem Bürgersteig verschwand. Es gab Eisladen, Bäckerei, Kino, Buchladen, Kindergarten, Bibliothek, Fotoplastikon, zwei Konsulate - chinesisches und schwedisches, und, genau gegenüber unserem Haus, ein Kindertheater. In den Balkonen des chinesischen Konsulats hingen zwei große rote chinesische Lampions mit goldenen Fransen. Komischerweise haben wir aber nie einen Chinesen gesehen. Sie wohnten in ihren chinesischen Konsulat und gingen nie weder hinaus noch hin.
Wir dagegen gingen, außer Konsulate, überall hin. Ins Theater vielleicht am liebsten.
Im Sommer kam immer die Familie aus Warschau. Meine Tante, ihre zwei Töchter, Großonkel und Großtante. Es war wunderbar. Wir aßen Sauerbohnen und Mais mit Butter. Die Großtante buk Käsekuchen. Erwachsene spielten Bridge, alle paar Tage gab es Eis, der Großonkel erzählte Geschichten, und mindestens einmal gingen wir ins Theater. Wir das heißt wir, vier Mädchen, meine Schwester, meine zwei Cousinen und ich, sowie ein Erwachsener.
Ich war die älteste von uns vier, die jüngste von uns war vier Jahre jünger als ich. Ich glaube ich war zehn als der Großonkel uns zur Aufführung von "Die Fünf Brüder Li" ins Theater nahm.
Endlich haben wir Chinesen gesehen. Fünf kleine Puppen in weißen Kleider und spitzzulaufenden chinesischen Hüten. Aber, o Jesusmariaundheiligerjoseph, diese kleinen armen Puppen ackerten wie Tiere auf einem Reisfeld. Sie hungerten und baten um mehr Reis. Und dann kam ein großer Chinese, von einem Menschen gespielt, und, o Jesusmariaundheiligerjoseph, er hat die kleinen Puppen mit einem Knuten geschlagen. Ganz heftig. Wir fingen an zu weinen. Der Großonkel versuchte uns zu beruhigen. Zu erklären, dass es nur ein Symbol ist, der große Chinese soll ein böser Kapitalist sein... Vergeblich. Wir weinten immer lauter, schluchzten um die Wette, und da wir vier zusammen waren, verstärkten wir uns in unserem Weinen gegenseitig. Nach ein paar Minuten war es schon unerträglich. Alle schauten uns an, und dann nahm uns der Großonkel alle aus dem Theater raus, wir gingen Eis essen und beruhigten uns allmählich.
Seitdem galt es als schlimmste Familien-Bedrohung, dass, sollen wir nicht brav werden, man uns ins Theater nehmen wird, zur Aufführung von "Die Fünf Brüder Li".
Es war eine Erzählung geschrieben von einer polnischen Autorin, Maria Górska, aber wenn man unbedingt will, kann man sie auch auf Deutsch lesen, weil sie als Heft Nr. 25 in der Buchreihe "Goldene Leiter" in Österreich herausgegeben wurde. "Die Fünf Brüder Li. Chinesische Volkserzählungen und Tierschwänke". Geschrieben 1954.



Keine Kommentare: