Samstag, 19. Juli 2008

Zeit

Ich saß alleine in meinem Zugabteil, da kam noch jemand rein. Ein Mann. Anzug, Aktentasche, Brille. Schwarzes glattes Haar. Ein Chinese. Er nahm sich den anderen Fensterplatz, mir gegenüber, legte seine Aktentasche beiseite, holte ein Stapelpapiere und einen eleganten Kugelschreiber. Er arbeitete, ich las. Irgendwann, irgendwo zwischen Berlin und Warschau, legte er seine Papiere ab, schaute mich an und fragte, ob ich Englisch spreche. Ja, das tue ich. Aha, nickte er und schwieg. Aha, nickte ich und schwieg ebenfalls. Ich war müde. Ich schaute auf die Uhr (damals trug ich noch eine Uhr). Noch 2,5 Stunden. Ein paar Minuten später fragte mich der Chinese, wie spät es sei? Ich schaute erneut auf die Uhr. 11.47 Uhr sagte ich. Dafür hasse ich euch Europäer, sagte er, sichtlich aufgeregt. Wofür? fragte ich. Ihr schaut auf die Uhr alle fünf Minuten, aber ihr wisst nie, wie spät es ist.
Er grinste. Dies schien mir ein Zeichen zu sein, dass er es mit dem Hass nicht so wörtlich meint.


Erst vor ein paar Tagen hat mir eine Frau erzählt, dass die Chinesen grinsen, wenn sie ihre unfreundliche Gefühle verbergen möchten. Die Straße voll grinsender Chinesen bedeutet in Wirklichkeit eine geballte Feindlichkeit. Der grinsende Chinese im Zugabteil ist mein Feind und er meint es wörtlich mit seinem Hass.
Ich grinse.

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